Drei musikalische Welten

 

Anmerkungen zu den Chorwerken dieses Konzertes

Drei musikalische Welten begegnen sich in unserem Programm: Zum einen der Jubilar dieses Jahres, Hugo Distler, der 2008 einhundert Jahre alt geworden wäre. Es ist bedauerlich, dass Distlers Werk in den vergangenen Jahrzehnten etwas in Vergessenheit geraten ist. Das mag zum einen daran liegen, dass andere Phänomene, zum Beispiel die historische Aufführungspraxis Alter Musik, das Interesse vieler versierter Chöre fesselt oder andererseits Trends wie das neue geistliche Lied oder die Gospelbewegung, die spätestens seit dem Whoopi-Goldberg-Film „Sister Act“ (1992) nach Deutschland übergeschwappt sind und eine große Anhängerschaft finden konnten. Vielleicht sind Hugo Distlers geistliche Motetten und seine berückenden Vertonungen von Gedichten Eduard Mörikes im Mörikechorliederbuch auch den meisten Chören schlicht zu schwer geworden.

Wir meinen, dass es sich im Jubiläumsjahr lohnt, erneut den Fokus auf Distlers Schaffen zu legen: Hugo Distler ist wohl der bedeutendste Vertreter der sogenannten „Stilwende“ in der deutschen Musik, die sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg formierte. Diese Wende bedeutete einen radikalen Bruch mit den Ausläufern der Spätromantik. Fortan wurde angeknüpft an die deutsche Barockmusik des 17. Jahrhunderts, für die Heinrich Schütz als überragende Figur stand. Distler selbst bekennt sich geradezu emphatisch zum „Vater der deutschen Musik“, ein Ehrenname, der Schütz bereits zu seiner Zeit beigelegt war. In einem Zeitschriftenartikel unter der Überschrift „Vom Geiste der neuen evangelischen Kirchenmusik“ schreibt der 28-Jährige: »Man singe nur einmal selber im Chore etwa das Schütz’sche „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ – da gewinnen Baum und Strauch und alle Kreatur, das ganze Universum eine Sprache. Und diese Sprache ist gar nicht anders denkbar denn als vielstimmiger Chorus. Von diesem Wort des Geistes verspüren wir heute wieder etwas  (aus „Zeitschrift für Musik“, 1935)

Distler entdeckte in seinen ersten Lübecker Jahren ab 1931 die Werke von Heinrich Schütz und ließ sich von ihnen inspirieren. So ist unschwer zu erraten, wer Pate gestanden hat, als Distler seine Motettensammlung „Geistliche Chormusik“ nannte, und auch in seiner Choralpassion Opus 7 und seiner Weihnachtsgeschichte Opus 10 nimmt Distler direkt Bezug auf das große barocke Vorbild. Es war die plastische Behandlung der Sprache in der Musik der Schützzeit, die Distler faszinierte und die er in seinem Werk meisterhaft verwirklichte. Dennoch darf man Distler nicht als reinen Historisten oder Eklektiker sehen, denn sein Werk erschöpft sich keineswegs in einer Nachbildung barocker Muster. Distler verwirklicht gewisse barocke Parameter der Sprachbehandlung in einem kunstvollen harmonischen und rhythmischen Rahmen, in dem etwas völlig Neues aufscheint.

In unserem Programm erklingen drei Chorwerke von Hugo Distler, von denen nur die Motette „Das ist je gewisslich wahr“ bisher bekannter gewesen sein dürfte. Die beiden Abendmotetten hingegen sind zu Distlers Lebzeiten nicht gedruckt worden und wurden erst in den Neunziger Jahren ediert. Wer hinter „Nun ruhen alle Wälder“ eine lupenreine Paul-Gerhardt-Vertonung vermutet, der irrt, denn nur die ersten beiden und die letzte Strophe sind dem bekannten Abendchoral entnommen. Die dritte Strophe der Motette („Du bist der Müden Stärke“) stammt aus den „Geistliche(n) Oden und Lieder(n)“ des Christian Fürchtegott Gellert von 1757 und die vierte Strophe („Ein Tag, der sagt’s dem andern“) vom großen rheinischen Mystiker Gerhard Teerstegen (1697-1769). Wahrscheinlich hat Distler selbst diese Texte zusammengefügt. Im Strophenchorlied „Die Sonne sinkt von hinnen“ ist ein Text von Hermann Claudius (1878-1980), einem Urenkel von Matthias Claudius (1740-1815), dem Dichter von „Der Mond ist aufgegangen“.

Es wurde häufig praktiziert und es ist auch sinnfällig, Werke Distlers mit Motetten von Heinrich Schütz im Konzert zu verbinden. Wir haben die drei Distlerwerke mit drei Schützmotetten kombiniert. Zum einen mit „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“, der mutmaßlichen Lieblingsmotette Hugo Distlers und zum anderen mit zwei doppelchörigen Werken. „Herr, wenn ich nur dich habe“, dem Mittelteil der 1636 komponierten Begräbnismusik für Heinrich Reuß zu Gera, die unter dem Namen „Musikalische Exequien“ bekannt geworden ist, sowie die Vertonung des 100. Psalms „Jauchzet dem Herren alle Welt“, einem Anhang aus dem sogenannten „Schwanengesang“, eine Motettensammlung über den 119. Psalm, die Schütz erst 1671, also ein Jahr vor seinem Tode, vollendete.

Begegnen sich mit Schütz und Distler zwei Welten, die irgendwie aufeinander bezogen scheinen, so tritt mit der großen Motette „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ eine dritte „musikalische Welt“ in unser Programm: Das Werk stammt von Georg Schumann (1866-1952), einem Komponisten, der ganz und gar in der Spätromantik zu verorten ist. Ein halbes Jahrhundert, von 1900-1950 leitete Georg Schumann, der nicht mit Robert Schumann verwandt ist, die berühmte Berliner Sing-Akademie. Noch in hohem Alter reiste Schumann mit seinem Chor durch Europa. Erst der Zweite Weltkrieg ab 1939 brachte den Betrieb fast zum Erliegen. Dass sich Schumann und Distler in dessen zwei Berliner Jahren 1940-1942 begegnet sind oder korrespondiert haben, lässt sich bis heute nicht nachweisen.

In Schumanns großangelegten homophonen Motetten begegnen Klänge, die an Richard Wagner erinnern. Eine Klangwelt, die uns heute ungebrochen fasziniert, derer man aber zur Zeit Distlers in manchen Kreisen überdrüssig geworden war. Eine Aufführung der Motetten Georg Schumanns mit noch nicht einmal vierzig Ausführenden erscheint durchaus gewagt. Vertragen sie doch durchaus dreistellige Mitwirkendenzahlen. Doch die Aufnahme dieses grandiosen Werkes mag unseren Blick und unser Ohr dafür schärfen, welche der junge Distler und mit ihm viele andere Anfang der Dreißiger Jahre meinten verabschieden zu müssen.

Wir Heutigen müssen heute nicht werten und Partei ergreifen, sondern können alle Zeugnisse der Musikgeschichte wahrnehmen und genießen. Die Kombination der drei Welten Frühbarock, Musik der Stilwende und Spätromantik in unserem Konzert schlägt einen weiten Bogen und kündet vom Reichtum der Chormusik a cappella, die uns Ausführende und Zuhörer immer wieder in ihren Bann schlagen möge.

 

Reinhard Mawick 7/2008