Donnerstag, 06. November 2003
Erotisch durchpulste Interieurs
Georg Schumanns biblisches Oratorium "Ruth" wurde in der Philharmonie aufgeführt
Jan Brachmann
Zu den inneren Verwerfungen des zweiten deutschen Kaiserreichs gehört, dass gerade nicht die akademischen, sondern eher die sezessionistischen Geister, allen voran Nietzsche, die "Einheit des großen Stils" vermissten. Max Klinger klagte 1894: "Der große gesammelte Ausdruck unserer Lebensanschauung fehlt uns. Wir haben die Künste, keine Kunst".
Georg Schumanns biblisches Oratorium "Ruth", 1908 vollendet und am Dienstag in der Philharmonie nach Jahrzehnten des Vergessens wieder aufgeführt, legt aber einen gegenteiligen Gedanken nahe. Was er im Gesamtensemble der Künste oder zumindest architektonisch vielleicht nicht vermochte, hat der Wilhelminismus musikalisch noch einmal geschafft: einen originären "großen Stil" zu finden, der das Historische sich anverwandelt, statt es als Zitat und Zierrat mitzuschleppen. Den Weg dazu eröffnete die Musik von Richard Wagner. Unsere personalstilistische Fixierung des Hörens verstellt uns die Wahrnehmung dieser eindrucksvollen Veralltäglichung von Wagners Musiksprache, die schon zwanzig Jahre nach seinem Tod ein großes kulturelles Integrationspotenzial erreicht hatte.
Einfach einverleibt
Mit größter Selbstverständlichkeit überträgt Georg Schumann (1866-1952) in "Ruth" die Leistungen des Wagnerschen Musikdramas auf das Oratorium: den ins Unendliche sich entgrenzenden Orchestermischklang, das epische Verfahren der Leitmotivtechnik mit seinen Vorahnungen und Rückblenden und die frei fließende Deklamation der Texte. Hier hat sich jemand eine damals noch junge musikalische Technik einverleibt, um aus ihr heraus organisch weiter zu schaffen. Diese musikalische Sicherheit verbindet sich bei Schumann mit jener in der Gestaltung des Textes: Das Buch Ruth aus dem Alten Testament liefert die Vorlage für den Handlungsverlauf; die Texte für die Arien, Duette und Chöre aber hat Schumann selbst geschrieben nach Vorbildern anderer biblischer Texte, besonders den Psalmen, dem Hohelied sowie den Büchern Hiob und Prediger Salomo.
So wird in diesem Oratorium das Bemühen spürbar, ästhetisch jene Kontinuität von Herkunft und Zukunft, zumindest die Bindung der Gegenwart an eine alte Überlieferung zu behaupten, die von der Französischen Revolution 120 Jahre zuvor nachhaltig beschädigt worden war. Rein musikalisch allerdings liegen Herkunft und Zukunft in "Ruth" eng beieinander. Die Duette zwischen Boas und Ruth sowie zwischen Ruth und Noemi verweisen zum einen zurück auf Sachs und Eva in den "Meistersingern", zum anderen voraus auf Octavian und die Marschallin im "Rosenkavalier". Zwischen Schusterstube und Boudoir also, im erotisch durchpulsten, durchaus behaglichen Interieur halten sich diese biblischen Szenen auf. Die mehrfach geschichteten Vorhalte der Akkorde streicheln die erogenen Zonen der Diatonik; die Suche nach "Zions Haus" endet meist auf einem Dur-Quartsextakkord. So hat sich die Wagner'sche Kosmologie zu einer Sinfonia domestica gewandelt.
Georg Schumann hat lange die Sing-Akademie zu Berlin geleitet, war ab 1934 Präsident der Preußischen Akademie der Künste und gehörte 1903 zu den Gründungsmitgliedern der GEMA. Die GEMA feierte ihr hundertjähriges Jubiläum mit diesem Konzert und der Philharmonische Chor den Vertragsabschluss mit Jörg-Peter Weigle als seinem neuen künstlerischen Leiter.
Getilgte Spuren
Weigle verzichtete in der Aufführung sowohl beim Chor als auch beim Orchester (es spielten die Berliner Symphoniker) auf große Kraftentfaltung. Das Ergebnis waren feine Farbverschmelzungen, besonders zwischen den Frauenstimmen und den hohen Holzbläsern. Auch mit den Gesangssolisten (Michaela Kaune, Cornelia Kallisch, Johannes von Duisburg, Sebastian Bluth) ist eine glückliche Wahl getroffen worden. Cornelia Kallisch bewies besondere Gestaltungskraft: Der schöne Ton, der im reinen Klingen die Spuren seiner körperlichen Erzeugung austilgt, stand ihr zwar zu Gebote, aber nur als ein Mittel unter vielen. Sie vermochte daneben auch, die Farbe des Sprechtons aus dem Brustregister in ihr Singen zu übertragen, was dem Leid der Noemi, einem weiblichen Hiob, große Eindringlichkeit verlieh. Die Berliner Symphoniker nutzten das Konzert auch, um ihr Publikum im Foyer zu ermutigen, sich für den Erhalt des Orchesters zu engagieren.